Spätestens in den Unterrichtseinheiten zum Rehwild wird die sogenannte Keim- oder Eiruhe in jedem Vorbereitungskurs auf die Jägerprüfung unseres Landes thematisiert. Doch was genau verbirgt sich dahinter? Zunächst kommt es, wie bei allen Säugetieren, im Eileiter zur Befruchtung der Eizelle durch eine Samenzelle. Beim Rehwild erfolgen die allermeisten erfolgreichen Beschläge bekanntlich im Juli und August. Durch den Eileiter wandert die Keimzelle dann in die Gebärmutter.
In den folgenden etwa zwei Wochen kommt es zu einer raschen Teilung oder Furchung der befruchteten Eizelle, wodurch die aus vielen Zellen bestehende, rundliche Blastozyste entsteht. Erst jetzt beginnt die eigentliche und etwa viereinhalb Monate lange Keimruhe, die sich bei genauer Betrachtung allerdings nur als extrem verzögerte Entwicklung darstellt. Die Blastozyste lagert in dieser Zeit im Schleim der Gebärmutter.
Die Implantation (Nidation), also die feste Einlagerung in die Uterusschleimhaut erfolgt normalerweise im Dezember. Denn erst zum Jahresende erfolgt der Ausstoß des dazu notwendigen Wachstumshormons seitens der Ricken und Schmalrehe. Die Keimbläschen werden jetzt voll ernährt und es kommt zu einer raschen Entwicklung der Embryonen. Schon Ende Januar sind die Föten durchschnittlich etwa 50 Gramm schwer und 10 Zentimeter lang. Ihre Entwicklung schreitet weiter voran, bis die Kitze im Mai oder Juni mit einem Durchschnittsgewicht von etwa 1,2 bis 1,5 Kilogramm das Licht der Welt erblicken.
So wird durch die Keimruhe gewährleistet, dass die Kitze in der günstigsten Zeit eines jeden Frühjahrs geboren werden. Zumindest wird es üblicherweise so erklärt. Stellt sich die Frage, warum nicht einfach auch das Rehwild später brunftet? Dem könnte z. B. der Geweihzyklus der Rehböcke entgegenstehen, die im Dezember fast ausnahmslos abgeworfen haben. Brunft ohne Waffe? Andererseits fällt die Brunft- oder Blattzeit und folglich eine sehr hohe Bewegungsaktivität in schöner Regelmäßigkeit in die heißeste Zeit eines jeden Jahres, was bei objektiver Betrachtung nicht unbedingt vorteilhaft erscheint …
Doch sind eben nicht alle evolutionsbiologisch bedingten Lebensäußerungen „einfach“ zu erklären, geschweige denn müssen sie aus menschlicher Sicht immer „sinnvoll“ erscheinen. So werden die meisten Dachsgehecke in Mitteleuropa trotz vorheriger Keimruhe im spätwinterlichen Februar und März geboren. Zwar sind die Dachswelpen zunächst typische Nesthocker, doch gäbe es aus Sicht der laktierenden Fähen wetter- und temperaturtechnisch sowie hinsichtlich der Nahrungsverfügbarkeit sicher besser passende Zeitfenster. Oder?
Weltweit zeigen uns laut aktuellem Kenntnisstand nur 130 von 6596 rezenten Säugetierarten die fortpflanzungsbiologische Strategie einer mehr oder minder langen Keimruhe. Und die Frage nach dem wieso, weshalb, warum ist aus menschlicher Perspektive durchaus nicht immer wirklich schlüssig zu erklären. Warum die eine Spezies, andere, nah verwandte Arten aber nicht?
Sicher unzutreffend ist die leider immer noch zu hörende Aussage meist älterer Zunftgenossen, dass in Mitteleuropa ausschließlich Arten, die im Juli und August brunften oder ranzen eine Keimruhe hätten. Das trifft zwar auf das Rehwild und die meisten Fähen der Baum- und Steinmarder zu, nicht jedoch z. B. auf mehrjährige Dachsfähen oder das Hermelin. Munter bleiben! AD